Wie funktioniert Lernen eigentlich, wenn wir es nicht als solches „labeln“, sowie planen und steuern wollen?
Wie lernen wir eigentlich in Systemen, in denen die Lernpfade und die Soll-Kompetenzen nicht von anderen vorgegeben werden, ist für mich eine aktuelle Frage, die mich in letzter Zeit öfter beschäftigt hat. Gibt es auch Situationen in unserem Leben, in denen wir uns neue Fähigkeiten oder Wissen aneignen, ohne, dass wir dies als für uns so erlerntes, klassisches Lernen wahrnehmen? Lernen, wie wir es z.B. im Privaten, aber auch Startup-Bereich leben, ohne es explizit als solches zu kennzeichnen. Nicht wie es uns in einer (Hoch)Schule oder auch noch in vielen klassischen Trainingssettings oder gar Qualifizierungsmaßnahmen /-programmen, vorgelebt wird.
Ich möchte diese Art des „freien“, „ungelabelten“ Lernens im forthinein als „natürliches Lernen“ bezeichnen.
In meiner beruflichen Zeit durfte ich bereits in vielen Arten von Systemen tätig sein. Von multinationalen Konzernen, über Mittelständler, hin zu kleinen Unternehmen und NGOs, sowie dem staatlichen Bildungssektor. In den letzten 2 Jahren nun auch im Startup-Bereich. Zum einen als Freiberufler in einem Startup Incubator und zum anderen mit meinem eigenen Startup.
Die (Lern-)Kultur, in der ich mich bis jetzt am wohlsten gefühlt habe, ist dabei ganz klar die des Startup-Sektors. Besonders Hochschulen aber auch Konzerne erscheinen mir zu starr und unflexibel. Es geht in diesen Systemen, gefühlt, zumeist nur darum Vorgaben und Prozesse zu befolgen, um möglichst nicht „negativ“ aufzufallen. Damit wird sehr viel Energie aufgewandt, die internen Richtlinien am „Laufen“ zu halten. Aber eine positive Entwicklung, also marktfähige Innovationen bzw. -Geschäftsmodelle, in deren Kontext auch ganz viel Lernen vonstattengeht, passiert besonders in den Bereichen, wo es „unbequemer“, undefinierter, offener zugeht. Wo nicht alles geplant, strukturiert und vorgegeben ist. Wo noch genug Restenergie übrig ist, um sich überhaupt den Raum nehmen zu können kreativ-schöpferische Lösungen zu entwickeln. In der Thermodynamik nennt man dies den Grad der Entropie. Je höher diese in einem System ist, desto weniger Energie ist ungebunden im System vorhanden. Das System wird zuerst stabiler, was ja perse nicht falsch, sogar oftmals gut ist. Bei „zu viel Entropie“ wird das System, wie beispielsweise ein Unternehmen, aber zunehmend starrer. Dabei bleibt die Lern- und Veränderungsfähigkeit und somit die Innovationskraft auf der Strecke. Dies bedeutet, dass wir den Rahmen für Lernprozesse neu stecken sollten, um neue Energie für neue Ideen schaffen zu können.
Im Folgenden möchte ich erläutern, wie ich „natürliche Lernprozesse“ bei mir selbst und im Startup-Bereich wahrgenommen habe.
Startups befinden sich z.B. häufig in Coworking Spaces und anderen, oft auch digitalen Netzwerken, um sich mit Gleichgesinnten besser vernetzen zu können. Vernetzung spielt bei Startups ohnehin eine äußerst wichtige Rolle. Dabei verschwimmen die Unternehmensgrenzen zunehmend, da man sich gegenseitig viel stärker unterstützt. Man könnte dies vielleicht auch als die Vorstufe bzw. den Startpunkt zu „fluiden Organisationen“ bezeichnen? Lernen passiert dabei ganz „natürlich“ im täglichen Doing. Man befindet sich z.B. in einer Situation, in der ein anderes Startup schon einmal war und kann so lernen, was bei dem anderen Startup funktioniert hat und was nicht. Der Eine hilft dem Anderen z.B. bei Online Kampagnen, dafür hilft der Andere dann z.B. bei der Homepage. Moderne Arbeitswelten (NewWork) kennen im Bereich von Startups oftmals schon keine Unternehmensgrenzen mehr. Es geht vielmehr um Kompetenzen und zwar bei Menschen, die sich erst einmal gegen einen sicheren Gehaltsscheck entschieden haben, um etwas tun zu können, worauf sie wirklich LUST haben. Was hat dies jetzt mit „natürlichem Lernen“ zu tun? Ich beschreibe hier bereits etwas die Rahmenbedingungen, die herrschen, wenn Menschen freiwillig, viel und intensiv lernen, ohne dies als geplante Vorgabe oder Muss zu verstehen. Im Startup-Bereich herrscht vom Start her eine enorm hohe, intrinsische Lernmotivation, die zudem noch an Emotionen gekoppelt ist. Ein wahrer BOOST für nachhaltiges Lernen und Kreativität, zumindest wenn man der Hirnforschung nach z.B. Prof. Dr. Gerald Hüther Glauben schenken mag. Finanziell bedeutet diese Situation oftmals eine große Unsicherheit und trotzdem tun Startups es (Intrinsische Motivation).
Lernen im Corporate – vs. Startup-Bereich:
„Herr Müller, Sie müssten diese Woche noch unbedingt die Facebook Kampagne für unser bald live gehendes, neues Produkt starten.“
„Oh, ich habe aber leider noch keinen Plan von Facebook-Ads, da wir diesen Kanal noch nie zuvor genutzt haben. Warten Sie kurz, ich gehe lieber in 3 Wochen zuerst auf ein Online Marketing Seminar für 2.000€, danach mache ich unsere neue Online-Kampagne. Sonst kann ich das ja gar nicht. Sie müssen das aber zuerst noch mit meinem Chef klären, der das Budget beim Bereichsleiter prüfen muss. Ich hoffe nur, das können Sie noch im nächsten Quartalsmeeting nächste Woche besprechen, sonst verzögert sich das Ganze noch etwas. Vorher kann ich da leider nichts machen.“
Eine vielleicht nicht völlig untypische Szene, aus dem Lernalltag eines größeren Unternehmens. In dem Training sitzt man dann, hört viel zu und wenn es gut läuft macht man auch 2-3 praktische, aber dennoch fiktive, Beispielaufgaben. Zumeist kommt die Person anschließend aus dem Training zurück, und hat erst einmal 3-4 dringliche Themen zu erledigen, die in der Zeit der Abwesenheit liegengeblieben sind, bevor es an die tatsächlich praktische Anwendung des Erlernten geht. Bis dahin ist das erworbene Wissen, bereits wieder zu über 70% weg (siehe Vergessenskurve nach Ebbinghaus). Und man merkt zudem, was eigentlich hätte noch Thema in dem Training sein sollen, um die anstehende Aufgabe bestmöglich erfüllen zu können…
Im Startup-Bereich hingegen, laufen diese Lernprozesse ganz anders ab.
Es tritt ein Fall auf, für welchen noch nicht genügend Fähigkeiten im Startup-Team vorhanden sind. Zuerst wird einmal Google oder immer öfter auch direkt YouTube befragt (Micro Learning). Über die dort gefundenen Quellen kann man oftmals bereits das notwendige Wissen sammeln. Falls nicht, wird das unmittelbare Umfeld z.B. im CoWorking-Space zu Rate gezogen, oder im digitalen Netzwerk nachgefragt (Vernetzungsdichte, Konnektivismus).
Der Suchende erhält dann entweder live vor Ort als eine Art ad-hoc Training / Peer Support am echten „Problem“ Hilfe, oder aus dem erweiterten (e)Netzwerk z.B. via Skype oder Google Hangouts. Learning by Doing in Paradeform im REALEN Problemkontext, welcher an ein aktives / akutes Bedürfnis, also eine Emotion gebunden ist (Kognitivismus). Man könnte es auch als Peer- bzw. Social Learning gepaart mit einem Schuss ad-hoc Peer-Coaching bezeichnen. So entstehen in Coworking-Spaces unter Startups oder Kleinfirmen nebenbei oftmals firmenübergreifende Communities of Practice – und das ohne Prozesse und großen Aufwand die Menschen zum Lernen und Austausch „zu bewegen“, also mittels vieler „Interventions- und Motivationsmaßnahmen“… Verrückte Welt! ?
Falls das Netzwerk einmal nicht helfen kann, werden oftmals online Kurse auf z.B. Udemy, Coursera, edX oder Udacity genutzt. Diese sind immer direkt zugänglich und die Kosten liegen meist zwischen 0-50€. Josh Bersin beschreibt dies in seinem wirklich tollen Artikel über „The Disruption of Digital Learning“ als Learning auf der Micro-Ebene. Also im „moment of need“, welches auch unter Performance Support bekannt ist.
Zudem werden im Startup-Bereich für Wissenslücken und den stetigen Blick über den Tellerrand oftmals die im Startup-Kosmos häufigen Netzwerktreffen genutzt. Diese finden zumeist abends im zeitlichen Umfang von max. 2-3 Stunden statt, in dem es Impulsvorträge und kleine Wissenshappen oftmals frei Haus, oder für max. 20-70€ den Abend gibt (Micro Trainings). Man hilft sich über die Unternehmensgrenzen hinaus im Netzwerk, was sich auf diesen Veranstaltungen zumeist auch noch stetig vergrößert. Im Nachgang dann auch gerne weiterhin mittels digitaler Tools wie Slack, Facebook oder Xing, aber auch immer öfter über Tools wie z.B. Asana und DaPulse.
Bei “natürlichen Lernprozessen“ kommt es somit oftmals ganz ungesteuert und unorganisiert zu einem Mix zwischen autodidaktischen Lernphasen gepaart mit ad-hoc Trainings und -Coachings (Blended Learning) und dies in Präsenz sowie digital.
„Agiler“ und „nachhaltiger“ geht es zurzeit aus meiner Sicht nicht.
Wie wird sich sonst noch Wissen im Startup-Bereich angeeignet?
Neue, interessante Artikel, die zumeist in Newsfeed-Readern wie Feedly oder als gelikte Seiten über Facebook abonniert wurden, werden über z.B. WhatsApp, Slack, Twitter, Confluence, Podcasts, eigene oder Netzwerk-Blogs sowie Pinterest getauscht, angereichert, diskutiert (Behaviorismus, Knowledge Sharing, Konnektivismus).
Dabei entstehen ganz beiläufig Knowledge Communities, in denen Lernen ganz natürlich, selbstinitiiert und -gesteuert „passiert“. Oft werden diese Inhalte über das mobile Endgerät „konsumiert“ (Mobile Learning).
Die für einen persönlich interessanten Artikel werden dann in einem Personal Learning Environment / Personal Storage Space wie z.B. in Evernote oder OneNote in den persönlichen Fundus aufgenommen. Nicht selten entwickeln sich in diesem Prozess neue Ideen, die analog oder digital niedergeschrieben werden, oder direkt im nächsten Online Meeting mit den Kollegen besprochen, oder über Slack bereits vorab geteilt, um die Meinung der Anderen einzuholen.
Auch wenn bei Startups sehr stark versucht wird, sich in Teilbereichen fundierte Fähigkeiten anzueignen, um die Kompetenzausprägungen im Team möglichst ergänzend zu gestalten, bleibt der Blick doch umfassender, da man oftmals (auch aufgrund des stetigen Ressourcenmangels) gezwungen ist, sich in mehreren Bereichen fit zu machen.
Dabei entstehen große Möglichkeitsräume für intrinsisch getriggertes Lernen, ohne dass dies so bezeichnet wird. Es passiert einfach ganz natürlich, wie dies auch der Fall ist, wenn man z.B. im Privaten ein Gartenhäuschen bauen will, dies aber noch nie getan hat. Der Prozess ist hierbei sehr ähnlich zu dem hier Beschriebenen.
In den meisten anderen Bereichen haben wir oftmals noch das typische Bild im Kopf von, „hier wird gelernt und dort wird gearbeitet“. Damit gilt es aus meiner Sicht endlich aufzuhören. Dass man im Schnitt 24 Stunden nach einem Training bereits wieder 70% vergessen hat, ist bereits seit 1885(!!) bekannt und trotzdem fließt immer noch ein Großteil des Budgets in genau diese Maßnahmen. Siehe z.B. hier: https://www.neuronation.de/gedaechtnistraining/vergessenskurve
Eine neue Meta-Studie (2017) zur Effektivität von Corporate Trainings bestätigt dies aufs Neue wie Jane Heart hier aufzeigt:
http://modernworkplacelearning.com/magazine/company-training-and-e-learning-is-the-least-valued-way-of-learning-at-work-what-does-this-mean-for-ld/
Wie bei so vielem in unserer sich rapide entwickelnden Gesellschaft, nehmen Startup- und oftmals auch IT-Abteilungs-Subkulturen (siehe z.B. SCRUM und der Einsatz digitaler Helfer) eine große Vorreiterrolle darin ein, wo sich die Themen Zusammenarbeiten/Arbeiten und Lernen hin entwickeln und wie diese immer mehr verschwimmen und verschmelzen.
Im Startup-Bereich lässt sich sehr schön sehen, wie die integrierte Lern- / Arbeitswelt der Zukunft aussehen kann.
Anmerkung: Dazu kommt noch die im Startup-Bereich sogar teilweise angepriesene „Fehlerkultur“ oder besser „Fehler sind ok, wenn man daraus lernt-Kultur“. Siehe z.B. das Format „Fuckup Nights“ (Erfahrungsaustausch über Projekte, die schiefliefen), welches durch Vernetzung und Austausch in besonders emotional geladenen Kontexten die Lernkurve positiv beeinflusst. Ein perfekter Nährboden für nachhaltigere Lernprozesse.
Ziel im Corporate aber auch Schul- sowie Hochschulbereich sollte es somit sein die Rahmenbedingungen bzw. das Framework, in dem Lernen ganz natürlich passiert und wobei oftmals (ganz nebenbei noch) neue Ideen entstehen, neu zu definieren. Und dies auf analoger (z.B. durch interdisziplinäre Teamräume / CoWorking-Spaces), aber auch digitaler Ebene durch Tools wie z.B. Stackfield, Coyo, Slack, Trello oder auch SAP Jam.
Dabei gilt es mehr denn je, die in den letzten 20 Jahren gebildeten Strukturen und Prozesse zu hinterfragen und zu überlegen, wie sich diese minimieren lassen, um Raum für selbstinitiierte Lern- und Entwicklungsprozesse zu schaffen. Alle anderen Jobs, die keine kreativ-wertschöpfenden Tätigkeiten beinhalten, für welche stetiges Lernen ein MUSS ist, werden im nächsten Jahrzehnt im Rahmen der digitalen Transformation ohnehin automatisiert…
Der Artikel beinhaltet zwar keine fertige Lösung, aber bereits einige Ansatzpunkte, über die es sich lohnen würde weiter nachzudenken und diese auszuprobieren. Packen wir es an! 🙂
Weiterführende Links:
Die Neuerfindung der Arbeitswelt (2012): https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/die-neuerfindung-der-arbeitswelt/
Anmerkung: Bereits aus dem Jahr 2012 und immer noch wegweisend… P.S.: Kreativität = Problemlösungskompetenz = Lernfähigkeit
Ohne Spiel keine Kreativität (2017): https://www.facebook.com/neuewegefinden/videos/1834098413522764/
Anmerkung: Ein Blick über den Tellerrand zu Kreativität, Spielen und Lernen
Wie könnte die Arbeitswelt der Zukunft ausschauen (2017): http://t3n.de/news/t3n-podcast-zukunft-der-arbeitswelt-797635/
Anmerkung: Coworking olé olé