Lernen 4.0 – mehr Individualisierung, mehr Freiheit?
Noch vor kurzem sprach alle Welt von massenhafter Bildung über das Web in Form von sogenannten MOOC´s. Damit sollte ein neuer Weg zu einer modernen Form des lebenslangen Lernens gefunden sein. Inzwischen schreitet der Wandel fort und die Digitalisierung von Inhalten und Lehr-/Lernprozessen ebenso. Der Übergang von den Massive Open Online Courses über sogenannte Coporate Open Online Courses (COOC) hin zu Small Private Online Courses (SPOC) hat längst stattgefunden und jetzt geht es vielmehr um eine Art der Individualisierung des Lernens. Dies ist zumindest eine mögliche Perspektive, die z.B. auch von Julia Behrens in ihrem Beitrag vertreten wird. Sie beschreibt die Chancen von Lernen 4.0 aus meiner Sicht sehr treffend: „Die Digitalisierung versöhnt dabei zwei scheinbar unvereinbare Aspekte: individuell zugeschnittenes Lernmaterial und gleichzeitig die massenhafte, raum- und zeitunabhängige Verfügbarkeit des Materials. Damit hat eines der fundamentalen Prinzipien rund um das Lernen ausgedient: für alle dieselbe Übung zur selben Zeit am selben Ort.“
In der vierten industriellen Evolution :-), Industrie 4.0, ermöglicht Digitalisierung ebenfalls eine Individualisierung in der Produktionssteuerung hin zur wirtschaftlich vertretbaren Stückzahl eins. Ermöglicht wird dies durch den hohen Vernetzungsgrad der Produktionsanlagen untereinander, über das Internet der Dinge sowie mit allen benötigten Organisationseinheiten des Unternehmens. Dabei spielen kollaborative Lehr-/Lernprozesse zwischen Mensch und Maschine eine zunehmend wichtigere Rolle und der von G. Siemens postulierte Konnektivismus ist längst Realität geworden. Die Forschung zur künstlichen Intelligenz blüht wieder richtig auf.
Lernen 4.0 – mehr Individualisierung durch das Inverted Classroom Model?
Seit 2011 nutze ich in dem Grundlagenmodul „Vernetzte IT-Systeme“ im dualen Bachelorstudiengang das Modell des Inverted Classroom (ICM). Die Studierenden erschließen sich die Inhalte größtenteils per Video und Literatur. Zur selbstständigen Überprüfung ihrer Lernfortschritte, haben sie zu jedem Kapitel einen elektronischen Fragenpool (Assessments) im Lernmanagementsystem zur Verfügung. Die wertvolle Präsenzzeit nutzen wir gemeinsam, um im Aktivseminar zunächst gemeinsam offene Fragen zu den Materialien zu klären. Anschließend wenden die Studierenden ihr Wissen in Kleingruppen (4-6 Studierende) auf von mir vorbereitete Transferaufgaben an. Nachdem wir diese dann wieder im Plenum besprochen haben, wird wieder in denselben Kleingruppen an einer praxisnahen Fallstudie gearbeitet. Die Arbeit an der Fallstudie nimmt im gesamten Semester mehr als 50% der Zeit ein. Sowohl bei der Bearbeitung der Transferaufgaben, als auch bei der Arbeit an der Fallstudie habe ich die Möglichkeit sehr individuell auf die einzelnen Studierenden und deren Fragen einzugehen. Hier schafft das ICM mehr Raum für Individualisierung.
Mehr Individualisierung, mehr Lernerfolg?
Soweit klingt das eben beschriebene Lernformat erfolgsversprechend und das kann es auch sein… Allerdings ist dieses Lehr-/Lernsetting nicht nur für den Lehrenden eine besondere und vor allem ungewohnte Herausforderung, weil dieser seine gewohnte Rolle ändern und eher als Facilitator bzw. Mentor agieren darf. Ebenso sind die Studierenden gefordert. Vom Lernkonsumenten zum aktiven Selbstlernen ist aufgrund der langjährigen Sozialisierung im klassischen Schulsystem für manch einen Studierenden eine besondere Herausforderung, die nicht immer wahr- geschweige denn angenommen wird. Was Studierende manchmal nicht wahrnehmen, ist, dass dieses Format im „Output“, also der vielbeschworenen Handlungskompetenz, nicht nur das pure Wissen vermittelt, sondern auch die Anwendung. Und genau das macht einen signifikanten Unterschied, denn in der Anwendung des Wissens dringt der Lerner anlassbezogen viel tiefer in die Inhalte ein, als wenn er nur abstrakt Vorratswissen ansammelt. Engagierte Studierende wünschen sich mehr solcher Lerngelegenheiten und dann auch gleich weniger in Modulkategorien gedacht, als die klassischen Lehr-/Lernmodule. Beispielsweise wünschen sich Studierende im oben genannten Modul gleichzeitig eine Einführung in das IT-Projektmanagement. Also auch im Hochschulbereich wäre ein mehr ganzheitlicher Ansatz in Zukunft sicher wünschenswert.
Weiterbildung 4.0 – Wandel im lebenslangen Lernen
Während der Einzug digitaler Medien in formalen Lehr-/Lernszenarien insbesondere an Schulen und Hochschulen immer noch langsam voranschreitet, sind in informellen Lernprozessen der Einsatz digitaler Medien längst Alltag. Werner Sauter beschreibt in seinem Artikel „Digitalisierung und Lernen“ eine Zukunft, in der humanoide Computer zu Lernpartnern im Lernprozess des Menschen werden. In der Industrie 4.0 werden Roboter zu humanoiden Arbeitskollegen, die „Hand“ in Hand mit ihren menschlichen Kollegen in der Fertigung arbeiten. Mit dieser Entwicklung ist auch ein Wandel im lebenslangen Lernen verbunden. Um beispielsweise in Zukunft mehr digitale Geschäftsmodelle mit den Mitarbeitern von heute zu gestalten, sind neue Qualifizierungsmaßnahmen erforderlich (vgl. hierzu das Forschungsprojekt „Weiterbildung 4.0 – Management digitaler Geschäftsprozesse“).
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