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flipclass modelVor einem Jahr fand die erste deutsche Konferenz ICM 2012 zum Inverted Classroom Model (synonym auch Flipped Classroom) in Marburg statt. Seitdem gab es auch hier zu Lande eine Reihe mutiger Lehrender, die dieses Modell in ihren Lehralltag integriert haben. Einige werden auf der diesjährigen ICM 2013 sicher vorgestellt und diskutiert. Es geht also um Lehren und Lernen im Wandel: Wieviel „Vorlesung“ braucht ein/e Studierende/r im Zeitalter von YouTube, Wikipedia, Facebook und Google noch? Wie können neue Formate (z.B. Inverted Classroom oder Offene Online Kurse) die Lernenden zeitgemäß beim Lernen unterstützen? (Bildquelle)

Das Bologna-Dilemma – Punkte sammeln

Die Bologna-Reform hat in unseren Hochschulen viel in Bewegung und auch positive Veränderung gebracht, insbesondere was Sicherung von Mindestqualitäten und die Transparenz von Lehr-/Lerninhalten angeht. Auch eine adäquate Abschätzung des studentischen Arbeitsaufwandes (Workload) soll jetzt in den Curricula der Bachelor-/Masterstudiengänge berücksichtigt werden. Inhalte, die zu einem gemeinsamen Lehr-/Lernziel beitragen, werden zu Modulen zusammengefasst. Modulprüfungen erbringen die Studierenden studienbegleitend. Soweit die Theorie! Die Praxis sieht jedoch anders aus. Zum Thema „Workload“ und dessen Wahrnehmung, hat sich der Kollege Schulmeister in seiner „Zeitlaststudie“ bereits ausführlich geäußert. Ein anderer Problembereich, der auch dem System geschuldet ist, liegt im eigentlichen Lernen bzw. der Lernkultur die dadurch gefördert wird. Auf der Jagd nach den 30 ECTS-Punkten pro Semester wird oftmals nicht nachhaltig gelernt, sondern Prüfungs-spezifisch selektiert:“Ist das Klausur-relevant, Herr Professor?“ und überhaupt „wie komme ich am effizientesten an meine Punkte?“. Die Lernkultur ist durch dieses System stark prüfungsorientiert und nicht wie ursprünglich geplant Lerner- und Kompetenz-orientiert.

Neues Lernformat – neue Chancen?

Beim Inverted Classroom Model (ICM) werden die Lehr-/Lernaktivitäten in der Weise vertauscht (invertiert), dass das Erschließen der Inhalte nicht mehr gemeinsam in einer Vorlesung geschieht, sondern individuell im Selbststudium im eigenen Lerntempo wann und wo der Lerner es möchte. Die gemeinsame Präsenzveranstaltung kann in diesem Modell mit wertvollen „Mehrwertaktivitäten“ gestaltet werden. Zum Beispiel vertiefen Studierende das Verständnis der Inhalte durch Diskussionen und Fragen im „aktiven Plenum“. Das Wissen kann in Übungen oder Fallstudien angewandt oder auf andere Fragestellungen transferiert werden. Dadurch wird die Kontinuität im Lernprozess gefördert, insbesondere dann, wenn ein Kompetenz-orientierter Leistungsnachweis und nicht eine Klausur den Lernfortschritt dokumentiert. Wenn es gelingt, in der Präsenzveranstaltung einen echten Mehrwert zu schaffen und den Leistungsnachweis nicht von einer Stichtagsprüfung abhängig zu machen, dann sollte damit auch eine Qualitätssteigerung im nachhaltigen Lernen möglich sein.

Grundlagenmodul in der Wirtschaftsinformatik „Vernetzte IT-Systeme“

Im vorliegenden Beispiel geht es um ein Grundlagenmodul im dualen Bachelor-Studiengang Wirtschaftsinformatik (B. Sc.), der sechs Semester umfasst. Im dritten Semester findet das Modul „vernetzte IT-Systeme“ (VIT) statt. In der Modulbeschreibung ist das Qualifikationsziel wie folgt definiert: „Die Studierenden sind mit den grundlegenden Begriffen vernetzter IT-Systeme vertraut und … Sie können den Aufbau heterogener lokaler Netze klassifizieren und selbstständig planen.“ Als Voraussetzung für die Belegung des Moduls ist das Modul „Grundlagen der Informatik“ erfolgreich vorher abgeschlossen. Das Modul VIT selbst dient als Grundlage für weitere Module z.B. „Netzwerkmanagement“, „Netzwerksicherheit“ oder „Web-Engineering“.

VIT-Modulo

Es wurde in den vergangenen Jahren „klassisch“ als seminaristische Vorlesung mit Übung/Praktikum und abschließender Klausur angeboten. Die einzige Besonderheit, die aufgrund des dualen Studiums integriert  war, bestand in der sogenannten Praxisrecherche, ein Arbeits-/Rechercheauftrag, den die Studierenden bereits während ihrer betrieblichen Praxisphase zur Vorbereitung des Moduls erarbeiteten. Der Workload umfasst 5 ECTS-Anrechnungspunkte, also einen Lernaufwand von insgesamt 150 Stunden. Davon waren ca. 60 Stunden Präsenzveranstaltung und 90 Stunden Selbststudium vorgesehen. Die lernortübergreifende Betreuung findet über das Lernmanagement System ILIAS statt. Die Größe der Studiengruppe umfasst typischerweise 25 Studierende.

Neues didaktisches Konzept

Als vorrangiges Ziel einer Integration des ICM war es für uns wichtig, die Qualität und die Nachhaltigkeit im Lernen zu verbessern. Im neuen didaktischen Ansatz sollte also nicht nur die Distribution der Inhalte geändert werden, sondern auch die Präsenzphase gleichen Umfangs und der Leistungsnachweis sinnvoll gestaltet werden. Der Ablauf des Lehr-/Lernszenarios ist in der Abbildung dargestellt. Zu Beginn des Semesters befinden sich die Studierenden noch am Lernort des Betriebes. Sie werden über das LMS in den Kurs „VIT“ eingeladen und bekommen dort ihre Rechercheaufgabe.

didaktisches konzept

Wir haben uns entschieden diese Aufgabe von einer Gruppenaufgabe jetzt auf eine individuelle Aufgabe umzustellen. Jeder Studierender erstellt zum Thema einen Wiki-Beitrag, der gewissen Mindestanforderungen (eigenes Bild, beschreibender Text und Quellen zur Vertiefung) genügen muss.

wiki beispiel

Noch während der Praxisphase bekamen die Studierenden nach erfolgreicher Bearbeitung der Rechercheaufgabe den Zugang zu den Inhalten des ersten Kapitels freigeschaltet. Die Inhalte waren in insgesamt sechs Kapitel unterteilt. Als Lernmaterialien wurden neben der Standardliteratur die Leer/Lehrfoliensätze, Screencasts und Selbsttests angeboten. Die Selbsttests dienten auch zur weiteren Taktung. War ein Selbsttest am Ende eines Kapitels mit 80% erfolgreich abgeschlossen, konnte der Teilnehmer nach eigenem Ermessen mit dem nächsten Kapitel bereits beginnen.

Zur Vorbereitung der Präsenzveranstaltung lag die Anforderung an die Studierenden darin, dass diese jeweils das im Organisationsplan vorgesehene Kapitel selbständig vorbereitet und den Selbsttest erfolgreich abgeschlossen hatten. Interessanterweise hatte ein Drittel der Studierenden bereits vor der ersten Präsenzveranstaltung sämtliche Selbsttests erfolgreich abgeschlossen.

Vorbereitung der Materialien – Videos als Lernnuggets

Screencast VITDie Inhalte des Moduls haben wir mit drei Kollegen (Autor gemeinsam mit M. Meron und F. Schimanke) in sechs Kapitel unterteilt und vorab als Screencasts (Bildschirmaufzeichungen) mit der Videoaufzeichnungssoftware Camtasia Studio von TechSmith vorproduziert. Als Basis dienten uns dabei bereits vorhandene Leer/Lehrfolien, die wir in einem „Frage-Antwortszenario“ zu zweit vor der Kamera vorgestellt und erarbeitet hatten. So kamen insgesamt ca. 45 Lernnuggets in Form von etwa 10minütigen Screencasts zusammen, die wir wie oben beschrieben in das LMS eingestellt haben. Die Produktion war zu unserer eigenen Freude in einem sehr überschaubaren Zeitverhältnis (Videozeit/Produktionszeit ca. 1:2) machbar, wobei hier nicht die Maßgabe des „Perfekten“ entscheidend war, sondern die Authentizität zählte.

Mehrwertveranstaltung „Aktiv-Seminar“

Die wichtigste Herausforderung lag in der Gestaltung der Präsenzveranstaltungen. Wir entschieden uns für ein „Aktiv-Seminar“, das in drei Phasen aufgeteilt war. In der ersten Phase konnten die Studierenden Fragen zu den Lehrmaterialien stellen, die dann gemeinsam erarbeitet und beantwortet wurden. In der zweiten Phase brachte der Dozent eine Fragestellung als Transferbeispiel ein, bei dem es darum ging, dass die Studierenden ihr Wissen in der Praxis anwenden und testen konnten.

aktivseminar

Schließlich diente etwa die halbe Zeit für die dritte Phase, in der die Studierenden in Kleingruppen (vier Studierende) eine Fallstudie (im vorliegenden Fall eine Netzwerkplanung) bearbeiteten. Hier war der Dozent als Auftraggeber und als Berater gefordert.  Das Ergebnis der Fallstudie war eine Netzwerkplanung im Umfang von ca. 30 Seiten, die als Gruppenleistung bewertet wurde. Neben dem Aktiv-Seminar gab es noch Übungsveranstaltungen mit studentischen Übungsleitern und Praktika mit einem Dozenten, um bestimmte Tools und Netzwerkkomponenten kennen zu lernen.

Erfahrungen –  Lessons Learned

Die erste Vorbereitung des gesamten Szenarios war sicher erheblich aufwendiger als in der klassischen Form, hat aber den beteiligten Dozenten Spaß gemacht. Die Aktivitäten im Aktiv-Seminar waren in meiner Studiengruppe jeweils abhängig von der Phase. In der Fragephase hätte ich mir deutlich mehr Fragen zu den Inhalten gewünscht, die dann allerdings in der dritten Phase (Bearbeitung der Fallstudie) teilweise nachgeholt worden sind. Insgesamt waren die Aktiv-Seminare durch fachliche Dialoge geprägt, ganz anders als im klassischen Lehr-/Lernszenario. Die Aktivierung der Studierenden war dadurch über den gesamten Semesterzeitraum sichergestellt.

VIT Evaluation

In der abschließenden Evaluation gab die Mehrheit der Studierenden an, dass das Lernen und Erschließen der Inhalte mit Hilfe von Videos für sie einfacher ist als in der traditionellen Vorlesung. Wenn Sie die Wahl zwischen dem neuen und dem traditionellen Konzept hätten, würden sich ca. 88% der Studierenden für das neue Konzept entscheiden.  Die größte Herausforderung für die Studierenden war die Bearbeitung der Fallstudie. Obwohl dafür mehr als die Hälfte des Aktiv-Seminars zur Verfügung stand, gelang nicht immer der Transfer des Wissens auf die Aufgabenstellung, so dass hier künftig mehr Anleitung in dieser Phase des Studiums (3. Semester) notwendig ist. Wir leiten daraus einen Handlungsbedarf in der Präzisierung der Anleitung und der Darstellung der Zusammenhänge zwischen der Theorie und der praxisnahen Planung ab.