Inspiriert durch den schönen Artikel von Donald Clark (special thanks to Donald Clark for the inspiring article!) reflektiere ich hier persönliche Erfahrungen. Auch aus meiner Sicht hat sich das Verhalten der Lerner ganz pragmatisch, vielerorts bereits irreversibel geändert, während an anderer Stelle intensiv darüber diskutiert wird, ob z.B. der Konnektivismus wirklich eine neue Lerntheorie ist oder eher doch nur eine pädagogische Sichtweise. Ich meine aus der Sicht der Lerner sind folgende Entwicklungen nicht mehr weg zu denken:
1. Asynchron und ubiquitär
Ob es jetzt um die lernortübergreifende Praxisbetreuung in dualen Studiengängen via Forum in einem LMS geht, oder eine Mathematikvorlesung via Video (Methode vgl. z.B. flipped classroom) am Lernort zu Hause vorbereitet wird, das asynchrone Lernen nimmt ständig weiter zu. Fast jeder Lerner hat inzwischen ein Smartphone und kann damit von überall, zu jeder Zeit auf Kurse, Wissen oder eine Vielzahl von Medien zugreifen. Auch im Kontext mit der realen Welt wird durch Applikationen zur erweiterten Realität (augmented Reality) in vielen Bereichen (vgl. z.B. Museum) ubiquitäres Lernen gefördert.
2. Links – Lernen läuft in der Regel nicht linear ab
Das eine, ideale Lehrbuch gab es im Studium nicht. Also wurde ein ganzer Bücherstappel auf dem Schreibtisch gebildet und dann noch das Fachlexikon und einige Journale hinzugezogen – die mit dem Lernen verbundene Recherche ist eben nicht linear. Wie schön, dass es im Web Hyperlinks gibt! In der Tat Wikipedia ist sicher eines der besten Beispiele, das ohne Links nicht funktionieren würde. Auch die gesamte Blogosphäre lebt von Hyperlinks.
3. Suchen und bewahren
Bevor Lerner heute in die Bibliothek gehen wird gegoogelt. Googeln als Verb für „mit Google im Internet suchen“ wurde bereits 2004 in die 23. Auflage des Rechtschreib-Duden aufgenommen. Nur ein kleiner Indiz für die Allgegenwärtigkeit dieses Konzerns, dessen Mission „Organize the world´s information …“ wohl niemand mehr anzweifelt. In jedem Fall ist es eines der wichtigsten Instrumente beim Lernen. Weitere Dienste, wie z.B. für das „Bookmarken“, das „Aufbewahren zum späteren Lesen“ oder die „Kurationsdienste“ helfen bei der Aufbewahrung und Pflege.
4. Wikipedia und vernetztes Lernen
Sicher das prominenteste Beispiel: Wikipedia! Wie konnte das passieren? Das größte Werk der Menschen entsteht parallel in x Sprachen, völlig freiwillig ohne, dass eine Institution dahinter steht und mit einem Abschluss versucht zu motivieren, ohne, dass die Arbeit vergütet wird…intrinschische Motivation etwa? In der neuen Kultur des Lernens, lernen die Menschen durch ihre Interaktion und Partizipation miteinander in „fließenden Beziehungen“, die das Ergebnis der gemeinsamen Interessen sind. In diesem Umfeld stehen alle Teilnehmer auf gleicher Ebene. Niemand hat die traditionelle Rolle des Lehrers oder Schülers. Auch der Qualitätsanspruch deutlich gewachsen, so dass die Inhalte in vielen Fällen (!) bereits wissenschaftlichen Ansprüchen genügen.
5. Chancen sozialer Netzwerke
Ob nun Fluch oder Segen Facebook, Google+ und andere soziale Netzwerke boomen. Neben dem Austausch von persönlichen Erfahrungen und Wissen werden inszwischen ganze Studiengänge via soziales Netzwerk betrieben. Der einfache Multiplikatoreffekt loser „Freundschaften“ führt zu einer neuen Form von Kollaboration mit der Chance sehr viel bessere Ergebnisse zu erzielen. Zum Beispiel hat dieser Effekt auch Auswirkungen auf Wissenschaft und Forschung, Stichwort öffentliche Wissenschaft. Während früher wissenschaftliche Arbeiten von ein oder zwei Experten begutachtet wurden, wird heute dazu übergegangen, wissenschaftliche Arbeiten ins Netz zu stellen und zwar mit der ausdrücklichen Aufforderung, dass möglichst viele Experten ein Feedback geben.
6. Blogs, Mikroblogs – Lesen und Texten
Durch Blogs, Mirkoblogs wird Lesen und Schreiben als soziale Aktivität wahrgenommen und führt in Verbindung mit neuen Endgeräten (Tablet-Computer) zu einer Renaissance des Lesens und Schreibens insbesondere bei der jüngeren Generation. Eine auch das gemeinsame Verfassen von Texten wird durch die instantane Feedbackmöglichkeit gefördert. In der Tat ist dabei ein interessantes Phänomen, dass die Textnachricht gegenüber einem persönlichen Gespräch (z.B. auch via Skype) oftmals bevorzugt wird, was sicher unterschiedliche Gründe haben mag, z.B. auch Asynchronität.
7. Pod- und Vodcasting
Noch nie war es so einfach “selbst auf Sendung zu gehen”. YouTube ist nicht nur die zweitgrößte Suchmaschine sondern hat auch die Art und Weise des Lernens enorm geändert. Neben dem vielzitierten Beispiel der Kahn Academy, gibt es eine Reihe sehr erfolgreicher deutscher YouTube Kanäle wie zum Beispiel den von Prof. Jörn Loviscach, der mit heutigem Stand auch bereits ca. 4,2 Millionen Videoaufrufe verzeichnen kann – also offensichtlich gibt es dafür einen großen Bedarf, denn dabei geht es nicht um Funvideos sondern um Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften allgemein.
8. Spielend Lernen
Spielen als Synonym für anspruchsvolle Erlebnispädagogik oder genauer “Game-based Learning” oder “Serious Games” sind heute wichtige Forschungsthemen (vgl. z.B. Überblick in L3T Son Le und Peter Weber). Geschicktes didaktisches Design kann den vermeintlichen Lerner quasi überlisten, so dass dieser nicht notwendigerweise merkt, dass er lernt. Die Vernetzung spielend Lernender in sogenannten Social Games führt neben dem Spaß des Spielens an sich zu einer weiteren sozialen Motivation, insbesondere im Wettbewerb ums Gewinnen oder das gemeinsame Entwickeln von Strategien.
9. Anwendungen und Werkzeuge (Apps and Tools)
„Dafür gibt es bestimmt eine App…“, hört man inzwischen nicht nur von flippigen Smartphone Besitzern. Heute sind es zwar bei den meisten „Informationsarbeitern“ immer noch die Office-Tools, wie Textverarbeitung-, Tabellenkalkulation- und Präsentationssoftware, die im täglichen Einsatz genutzt werden. Mit zunehmender Mobilität der Arbeitsplätze und der Endgeräte werden sich die Werkzeuge in die Cloud bewegen und wiederum ubiquitär verfügbar sein.
10. Offene Bildungsresourcen (OER)
Als vor gut 10 Jahren das MIT mit seiner Initiative „MIT OpenCourseWare“ ins Netz ging, waren doch viele Hochschulangehörige angesichts des Urheberrechts sehr überrascht. Die Vorstellung als Institution ihr Kowhow frei zur Verfügung zu stellen war bis dahin eher ungewöhnlich. Inzwischen hat ein Umdenken stattgefunden und es gibt zahlreiche weitere Hochschulen, die ihre Kurse offen ins Netz gestellt haben. Das Thema Urheberrecht ist noch nicht abschließend diskutiert, aber es gibt eine Reihe von Initiativen und die Deutsche UNESCO-Kommission hat vor kurzem einen Leitfaden zum rechtssicheren Umgang mit Open Content Lizenzen veröffentlicht – eine erfreuliche Entwicklung gerade aus der Perspektive der Lerner.
Fazit
Der Einsatz sämtlicher Instrumente für das Lernen erfordert durchaus ein hohes Maß an Medienkompetenz (z.B. wie prüfe ich die Validität gefundener Informationen?), auch wenn es daran oftmals noch mangelt, das Verhalten der Lerner hat sich de facto entscheidend geändert und wird sich weiter mit der Entwicklung technischer Innovationen ändern. Was machen die Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Bildungseinrichtungen daraus? Wie gehen sie damit um? Wie wird sich die Ausbildung für Erzieher, Lehrer und Trainer ändern? Welche neuen professionellen Intelligenzen bzw. Kompetenzen brauchen wir, um dieses neue Lernverhalten zu fördern? Fragen über Fragen. Auch Anfang des Jahres gehen mir die Fragen nicht aus, freilich vollständige Antworten hat wohl noch niemand parat – ich freue mich auf anregende Diskussionen.
Vielen Dank für diese knackige Übersicht! Das zeigt ganz deutlich: Viele Innovationen gehen von der technischen Entwicklung aus und nicht von didaktischen Überlegungen her. Manch einer meint ja, man müsse zuerst eine didaktische Idee haben und dann etwas basteln, das diese umsetzt. Die Realität sieht aber oft anders aus: Das Vorhandensein bestimmter Werkzeuge und das Wissen um deren Möglichkeiten bringen einen erst mal auf didaktische Ideen!
Und damit diese Art der Innovationen in Schulen und andere Bildungseinrichtungen kommt, brauchen die Lehrpersonen eines: Die Lust, neue Werkzeuge auszuprobieren und sich davon inspirieren zu lassen, die Kompetenz, das tun zu können, und insbesondere auch die Zeit dazu.
Aber viele didaktische Ideen waren schon lange vor den technischen Innovationen dar, sie wurden nur nicht genutzt … Das Rad wird ja nicht alle Jahre neu erfunden und wenn ich jetzt an meine Masterarbeit denke (Wikis in der Hochschullehre), dann greife ich im theoretischen Bereich manchmal auf Texte zurück, die bereits 40 Jahre alt sind und nichts an Aktualität eingebüßt haben. Aber warum braucht es erst die technische Innovation, damit es im Lehr-Lernkontext eingesetzt wird? Warum nicht anders herum? Warum nur reagieren statt agieren? Frag ich mich jetzt aus Lernersicht 🙂
@Florentina Vermutlich ist es mehr eine gegenseitige, wechselseitige Beeinflussung von didaktischer und technologischer Innovation. Und, naja, wenn man vor 40 Jahren ein paar gute Ideen hatte, dann konnte man sie evtl. noch nicht so einfach umsetzen wie heute. Also liegen Ideen erst mal rum. Dann kommen technologische Innovationen, man bekommt Ideen, wie man sie einsetzt, und man stellt fest: „Hey, diese Idee hatte ja vor 40 Jahren schon der XY (aber ohne die simple Umsetzungsmöglichkeit“). Ich finde, da ist nix bedauernswertes dran, es ist halt ne Entwicklung.
@Christian … bedauert hatte ich auch nichts, sondern mich ernsthaft gefragt warum dies so ist und warum erst abgewartet wird, bis die Technologie da ist und dann im nächsten Schritt überlegt, wofür kann ich sie nutzen. So zumindest hatte ich dich in deinem ersten Kommentar verstanden… Irgendwie hinkt man dann immer einen Schritt hinter der Technikentwicklung her.
@Florentina Nein, ich denke: Niemand wartet, sondern es ergibt sich einfach so… es ist eine ganz normale Entwicklung: Leute entwickeln Technologien, die andere auf didaktische Ideen bringen, und Leute haben didaktische Ideen, die sie selbst ohne entsprechende Technologien vielleicht noch nicht gut umsetzen können… diese Ideen müssen dann „auf ihre Technologie“ warten. Wenn die dann da ist, kann man sich natürlich auch auf die didaktischen Ideen von vor 50 Jahren beziehen… warum nicht?
Das Problem ist eben: Diejenigen, die didaktische Ideen haben, sind häufig nicht diejenigen, die sie auch technisch umsetzen können (im Sinne von „Wir programmieren uns mal ein System, das genau das macht“)
… aber genau das ist es ja: die Didaktik schaut zur Zeit, was gibt es Neues und ist es vielleicht brauchbar, aber niemand schaut, was hat die Didaktik für Ideen und wie kann man sie gewinnbringend umsetzen, indem man neue Technologien entwickeln. Dass die Didaktiker in der Regel keine Programmierer sind, ist mir klar, aber genauso wenig sind Programmierer Didaktiker und die Tools die entstehen sind dadurch manchmal nur bedingt einsetzbar – die Blickrichtung ist einseitig von der Didaktik auf die Technologie gerichtet. Müssten wir nicht an einem Punkt angekommen sein, wo man sich vernetzt und gemeinsam Ideen entwirft und umsetzt, indem man das gemeinsames Expertenwissen schon im Vorfeld nutzt? Müssen die guten Ideen wirklich warten, dass es sich ergibt, dass eine annähernd passende Technologie entsteht, die eine Umsetzung möglich macht?
Liebe Florentina,
lieber Christian,
vielen Dank für eure Kommentare und die angregende Diskussion. In der Tat habe ich physikalisch-pragmatisch meine Beobachtungen zum veränderten Verhalten der Lerner reflektiert und nicht die Perspektive der Didaktiker eingenommen. Gerade beim informellen Lernen (funktioniert oftmals ohne Lehrer und ohne Didaktik) kommt es natürlich darauf an, dass das Lernangebot beim Lerner eine hohe Akzeptanz (eben asynchron, ubiquitär u.a.) findet. Natürlich spielen eine Reihe anderer wichtiger Faktoren eine entscheidende Rolle, z.B. die soziokulturelle Entwicklung der Gesellschaft u.v.m..
Aus euren Kommentaren kann ich aber zwei wichtige Schlüsse ziehen:
1. @Christian: Damit eine Veränderung in den Institutionen stattfindet „…brauchen die Lehrpersonen eines: Die Lust, neue Werkzeuge auszuprobieren und sich davon inspirieren zu lassen, die Kompetenz, das tun zu können, und insbesondere auch die Zeit dazu…“ und bitte mehr solcher Apelle um den Kollegen mehr Mut zuzusprechen!
2. @Florentina: Mehr Interdisziplinarität zwischen insbesondere Didaktikern und Technikern (übrigens nicht nur Anwendungsentwickler sondern auch Ingenieure, die smarte Endgeräte entwickeln ;-)) bleibt ein langersehnter Wunsch, der aber nicht vollständig unerfüllt geblieben ist.
Diese Wechselwirkung findet oftmals nicht geplant statt, sondern schlicht und ergreifend dadurch, dass die Tools entwickelt wurden (manchmal mit anderen Zielen) und die Benutzer sie jetzt für bestimmte Zwecke einsetzen.
Allerdings fallen mir spontan mindestens zwei prominente Beispiele ein, bei denen der Ausgangspunkt das didaktische Design gewesen sein dürfte um anschließend in die Anwendungsentwicklung zu gehen: Michael Kerres mit seiner (Weiter-)Entwicklung der Plattform „Online-Campus 2.0 – für Lerngemeinschaften und soziales Lernen“ oder Stephen Downes mit „gRSShopper – a personal web environment that combines resource aggregation, a personal dataspace, and personal publishing“, die Plattform für bereits etliche MOOC´s.
Also insofern gibt es auch sehr positive Beispiele für gelungene Interdisziplinarität!