Das Thema der 6. Woche habe ich aufgrund der anregenden Diskussion im Anschluss an die gestrige Online-Sesssion mit Rolf Schulmeister um den Nachsatz ergänzt: „Nicht jammern, sondern weiter denken.“ Auslöser für die folgenden Ausführungen (Dialogform) ist ein ausführlicher Beitrag von einem sehr aktiven Teilnehmer Peter Ringeisen, besser bekannt unter dem Namen „Tulgey Wood“, dem ich herzlich dafür danke.
Tulgey Wood: @VolkmarLa Der „Widerspruch“, um den es hier geht (#schulmeister im #opco11 Livestream) resultiert (bei mir und einigen anderen Mitdiskutanten) aus der Enttäuschung über die Reaktion des Referenten.
VolkmarLa: Ja, aus meiner Sicht fehlte eben auch der Blick nach vorne – was ist zu tun, um festgestellten Defizite anzugehen.
Tulgey Wood: Das OpenCourse-Thema lautet „Zukunft des Lernens“. Schulmeisters Resümee (nach ca. 63 Minuten): „Unser System ist doch bankrott“ (das bezieht sich in diesem Kontext zwar speziell auf das Lernverhalten von Studenten vor Prüfungen, ist aber nach meinem Eindruck durchaus auf seine Meinung über weitere Bereiche der Bildungslandschaft übertragbar).
VolkmarLa: Als Hochschullehrer und Befürworter der Bolognaentwicklung sehe ich hier mehr die Enttäuschung eines Bologna-Skeptikers, der, was das Prüfungssystem angeht auch aus meiner Sicht Recht hat und damit ein Systemproblem verurteilt. Obwohl der Ansatz ursprünglich sinnvoll gemeint war (studienbegleitende Prüfungen führen zu mehr Mobilität), so führt dieses Prüfungssystem in der Praxis häufig zu dem erwähnten Bulimielernen (kurz vor der Prüfung alles rein, um es anschließend abhaken zu können). Hier sollten wir Hochschullehrer uns engagierter gegen wehren, damit das System nicht wirklich eines Tages bankrott ist, denn Kompetenzen, Qualifikation und Bildung braucht Nachhaltigkeit.
Tulgey Wood: Ich kann keine Vision erkennen, die mit der „Zukunft des Lernens“ zu tun hätte. – Ich schätze die Erfahrung und die Reputation von Prof. Schulmeister durchaus hoch. Umso betrüblicher erscheint es mir, dass er beinahe ausschließlich darauf abzielt, die Nichtexistenz einer „Net Generation“ zu beweisen. – Geschenkt, Herr Schulmeister! Dass die heutigen Jugendlichen sich nicht wie die Fische im Wasser im Internet bewegen und genau das suchen und finden, was sie auf ihrer Entwicklung als Person im Allgemeinen und als Lernende im Besonderen fördert und zu neuen Erkenntnissen führt, das weiß ich aus der täglichen Erfahrung in einem bayerischen Gymnasium selbst, dazu brauche ich keine dann und dort veröffentlichten empirischen Studien aus Amerika.
VolkmarLa: Wir Praktiker wissen das, aber gerade hierin liegt eine von Schulmeisters zahlreichen wissenschaftlichen Leistungen, eben nicht auf die Vielzahl von populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen insbesondere aus den Staaten, hereinzufallen und diese nicht vorhandene wie auch immer zu bezeichnende „Generation“ als Basis für eine neue Mediendidaktik vorauszusetzen. Die, auch von mir erlebte Realität sieht anders aus und genau das ist aus meiner Sicht der Ansatzpunkt. Aus meiner Sicht fehlt den Lernern und den Lehrern (unabhängig vom Alter beider Gruppen) häufig die entsprechende Medienkompetenz!
Tulgey Wood: Was ich von einem Hochschullehrer zum Thema „Zukunft des Lernens“ hören will, ist, wie wir es anstellen, dass das Internet der Bildung besser nutzbar gemacht wird. – Vielleicht ist das eine falsche Erwartung, weil Schulmeister evtl. mehr Empiriker als Didaktiker ist, dazu kenne ich seine Arbeiten zu wenig. Aber daher rührt die Enttäuschung – aus dem Widerspruch zwischen „Zukunft des Lernens“ und dem Motto „Bleibt von der Kiste weg!“ – Es ist nicht damit getan zu beklagen, die Jugendlichen beherrschten nur mehr „F-shaped scanning“ und könnten nicht mehr lesen. Es geht darum, Aufgabenstellungen zu formulieren, die zum genauen Lesen zwingen, und andere Aufgabenstellungen, für die genau „F-shaped scanning“ die richtige Bearbeitungsmethode ist. Wir wollten Konstruktives hören, nicht Destruktives.
VolkmarLa: Genau meine Meinung – an dieser Stelle mit den zwar enttäuschenden, aber doch vorhandenen Rahmenbedingungen weiter zu denken und die Zukunft des Lernens gestalten. Herrn Schulmeister schätze ich seit vielen Jahren, eben weil er nicht nur ein hervorragender Didaktiker ist, sondern auch etwas von Empirik versteht und als bekennender Skeptiker häufig Fragestellungen annimmt, die eben nicht immer auf ungeteilten Zuspruch treffen. Z.B. die aktuelle Zeitlaststudie, bei der durchaus von Studierenden und Hochschullehrern völlig andere Ergebnisse erwartet wurden. Hier stellt sich die Frage: Wie kommt diese Diskrepanz von „gefühlter“ und gemessener Belastung zustande? Genau an dieser Fragestellung arbeitet Schulmeister u.a. zurzeit – wir dürfen gespannt sein.
VolkmarLa: Zurück zum Ausgangspunkt: Nicht jammern, sondern weiter denken! Was ist vor dem Hintergrund der Aussagen von Schulmeister und zum Beispiel der 90-9-1 Regel zu tun, um mehr geeignete Lehr-/Lernszenarien mit hoher Akzeptanz auf beiden Seiten zu entwickeln? Wie sieht es mit der o.g. Medienkompetenz aus? Wann sollten wir geschützte Lernräume (LMS), wann eher offene Lernräume (social media) einsetzen? Wieviel Strukturierung brauchen solche Lehr-/Lernszenarien? Sollten Lehrer oder Lerner die Strukturierung vornehmen? Wie erwerben Sie die dafür notwendigen Kompetenzen? Brauchen wir an den Hochschulen dezidierte Maßnahmen für e-Bologna? …
Fragen über Fragen, die aber reichlichen Chancen bieten! Nochmals vielen Dank an meinen Dialogpartner Tulgey Wood. Ich freue mich auf Ihre Fragen, Anregungen und Kommentare.
Vielen Dank für dieses „Gespräch“, das letztendlich doch zeigt, dass wir nicht weit auseinanderliegen.
Zu einem Detail möchte ich noch etwas nachtragen. Oben heißt es, es sei Schulmeisters Leistung, nachgewiesen zu haben, dass es unsinnig sei, „diese nicht vorhandene wie auch immer zu bezeichnende ‚Generation‘ als Basis für eine neue Mediendidaktik vorauszusetzen“.
1. „vorhanden“ ist diese Generation natürlich schon. Das sind die Leute, die im Moment die Hörsäle und die Klassenzimmer bevölkern, und die – wie keine Generation davor – mobilen Zugriff auf das Internet haben … und diesen Zugriff nur in Ausnahmefällen fürs Lernen im Zusammenhang mit ihrem Ausbildungverlauf nutzen können (z. B. iPhone-Klasse in Goldau/CH).
2. „neue Mediendidaktik“ – davon war eben nicht die Rede, leider (aber ich wiederhole mich).
Wir haben die Schüler und Studenten, die wir haben. Wir haben die technischen Möglichkeiten, die wir haben. Wie wir beides zusammenbringen, damit die technischen Möglichkeiten möglichst breit verfügbar sind und möglichst sinnvoll eingesetzt werden, um den Schülern und Studenten persönliche Lernfortschritte besser, individueller und nachhaltiger zu ermöglichen, darum muss es gehen.
Vielen Dank für Ihren Kommentar und insbesondere den Hinweis 1. In der Tat von mir unsauber formuliert: ich meinte die nicht vorhandenen, aber postulierten Eigenschaften oder noch besser gesagt Kompetenzen der sogenannten „digital natives“, die ja im Übrigen nicht alle wünschenswert wären.